Die Farben des Seins
Vor geraumer Zeit oder genauer am 11. Februar 1959 wurde ich an einem kalten Wintermorgen in Hausen v.d. Höhe geboren.
Meine Eltern, Gerda und Hubert Lerner, waren noch Unternehmer im eigentlichen Sinne des Wortes und ich war das jüngste von vier Kindern, drei Jungen und einem Mädchen.
Wir wuchsen in einer fast unberührten Natur auf, umgeben von der Mutter, den Tieren und Pflanzen einer ländlichen Gemeinde und den Unternehmungen des Vaters. Dies waren in Folge Hühner, Gänse, Kaninchen, Hunde und schließlich die Mitarbeiter des aufstrebenden Lederreinigungsbetriebes.
Das Glück meiner Kindheit erfuhr die erste Trübung, als ich im zarten Alter von fünf Jahren eingeschult wurde.
Von diesem Zeitpunkt an waren das Blau des Himmels, das Grün der Bäume und das sonstige Farbenallerlei nicht mehr von der gleichen Intensität wie es vor diesem tragischen Wendepunkt gewesen ist.
Über die Schulzeit gibt es nicht viel zu sagen, es sei denn ich wollte über die Marotten der Lehrer berichten oder ihr Unvermögen, den Lehrstoff den Kindern auf interessante Weise nahezubringen. Erst später habe ich verstanden, daß der Begriff BERUF von Berufung kommt und man sich berufen fühlt, eine spezielle Tätigkeit auszuüben. Leider wurden die meisten Lehrer, die ich kannte nicht aus dem Grund Lehrer, weil Sie sich berufen fühlten, sondern weil Sie sich kommerziellen Vorteil davon versprachen.
Im nachhinein betrachtet war die Schulzeit ein Gemisch aus Weiß und Schwarz, ein graues Allerlei ohne größere Bedeutung für mein Leben. Die einzigen Farbtupfer darin waren die Freunde und Gefährten, die gleich mir das Jammertal durchqueren mussten
Nach der Schulzeit erfüllte ich mir einen Kindheitstraum und ich ging zur See; fremde Länder sehen, die Meere der Welt befahren und andere Sitten und Gebräuche kennenlernen. Von da an schien mir die Sonne wieder heller, und meine Erfahrungen und Entdeckungen zeigten mir ein neues und weites Feld.
Ich begann ein Tagebuch zu führen, um meine Gedanken und Erlebnisse festzuhalten. Fast gleichzeitig damit entdeckte ich die Literatur und die mannigfaltigen Möglichkeiten, daraus Lehren zu ziehen und mich weiterzubilden.
Ein paar Jahre später, als ich zu einem Kurzurlaub Zuhause war, hatte ich ein Schlüsselerlebnis, das mich zu meiner Berufung führte: meine Mutter zeigte mir die ersten Arbeiten meines Vaters in Tusche und Aquarell.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt, um mir Bleistifte und einen Block zu kaufen. Von Stund` an zeichnete ich alles, was ich sah oder mir vorstellte; erst Gegenstände des täglichen Gebrauchs, dann Früchte, Blumen, Landschaften, Gesichter und weibliche Körper. Nachdem ich Hand und Auge geschult hatte, fing ich an in Farben zu malen – zunächst in Kreide, dann Pastell, Aquarell, Acryl und zum Schluß in Öl.
Mit Öl und Acryl hatte ich dann die Medien gefunden, die mir die meisten Möglichkeiten boten, die Besonderheiten des Lebens darzustellen.
Eines Abends saß ich über ein neues Bild gebeugt am Tisch und hörte so nebenbei Musik, als im Radio die erste Symphonie von Beethoven gespielt wurde. Erst unterschwellig, dann immer dominierender führten mich die reinen Klänge weg von der Realität bis ich mit dem Schlussakkord zurück ins Leben fand.
Ich weiß noch genau wie ungläubig ich mich fühlte, als ich auf das fertige Bild starrte, das ich während dieses zeitlosen Moments malte.
In den ganzen Jahren seitdem ich male, habe ich keine Schule besucht, um die Malerei zu erlernen. Meine Ausbildung bestand in konstruktiver Kritik durch meinen Vater, der seine Malerei aufgegeben und dafür angefangen hatte Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben, meinen ältesten Bruder, der seine Leidenschaft für die Bildhauerei entdeckt hatte, und vielen Freunden die sich nicht scheuten mir ihre Meinung zu sagen.
Dies, die Erfahrungen, die man beim künstlerischen Tun macht, und die klassische Musik, die mir hilft im entscheidenden Augenblick loszulassen, sind die Lehrmeister und Wegweiser, die mir die Farben meiner Kindheit zurückgebracht haben.
Hubert Lerner